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Kein "Malen nach Zahlen"!
Generalbass-Signaturen sind eine Kurzschrift, womit Musikerinnen und Musiker untereinander kommunizieren. Hervorgegangen sind sie aus dem praktischen Musizieren mehrerer Generationen (ab dem späten 16. Jahrhundert) in unterschiedlichen Regionen (Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien, ...).
Da die Generalbassschrift eine Sprache von Musiker*innen für Musiker*innen ist, setzt sie satztechnisches Knowhow voraus.
Außerdem ist die Generalbassnotation also nicht ein durchgeplantes System, das auf dem Schreibtisch irgendeines Theoretikers entstanden ist, sondern eine Umgangssprache mit vielen Dialekten. Dies erklärt die Schwierigkeiten, auf die man stößt, wenn man davon ausgeht, dass eine bestimmte Signatur nur eine bestimmte Bedeutung haben kann. Neben mehrdeutigen Signaturen begegnen einem in der Praxis auch immer wieder "fehlende" Signaturen oder "überflüssige" Signaturen. Solche "Inkonsequenzen" gehören aber zur Natur der Sache.
Beim Realisieren eines Generalbasses sollen die kontrapunktischen und harmonischen Vorgänge deshalb immer detailliert nachvollzogen werden. Die Realisierung eines bezifferten Basses ist also kein bloßes "Malen nach Zahlen", sondern eine kreative Handlung im Rahmen eines stilistischen Regelwerks.
Was bedeuten die Generalbass-Signaturen?
Ziffern
Generalbassziffern verweisen auf Töne, die über dem Bass gespielt werden sollen, indem sie die Intervalle zwischen diesen Tönen und dem jeweiligen Basston benennen.
Die Ziffern informieren aber nicht über:
- die Oktavlage dieser Töne: Eine 3 zum Beispiel kann als Terz, aber auch als Dezime (10), als 17, als 24 usw. gespielt werden. Dass trotzdem in bestimmten Situationen eine 2 und in anderen eine 9 beziffert ist, hat mit Fragen der Dissonanzbehandlung zu tun: Bei einer 9 soll der obere Ton des Intervalls als dissonant und der untere als konsonant betrachtet werden, bei einer 2 ist dies genau umgekehrt.
- Verdopplungen
Stehen Ziffern übereinander, sollen die entsprechenden Töne gleichzeitig erklingen.
Ziffern ohne weitere Zusätze verweisen auf Töne, die der generellen Vorzeichnung entsprechen. So verweist die 6 zu Beginn von T. 4 im Besipiel 1 nicht auf einen Ton h, sondern auf einen Ton b, da vorne beim Notenschlüssel ein Be vorgezeichnet ist.
Um Töne anzudeuten, die einen chromatischen Halbton höher oder tiefer sind, werden die Ziffern mit den gleichen Akzidenzien (Kreuzen, Bes, Auflösungszeichen) versehen, die bei einer schriftlichen Realisierung vor der entsprechenden Note zu notieren sind, wie im Beispiel 1 bei der 6 und der 7 in T. 2.
Eine 7, die mit einem Be versehen ist, verweist allerdings in bestimmten Traditionen und Kontexten auf eine verminderte Septime, ungeachtet der generellen Vorzeichnung.
Durchgestrichene Ziffern
Eine durchgestrichene Ziffer bedeutet in der Regel dasselbe wie eine Ziffer mit einem Erhöhungszeichen (in modernen Notenausgaben ähnelt der Strich häufig einem Pluszeichen, das an der Ziffer befestigt ist). Unser Beispiel könnte also auch so aussehen:
Eine 5, die mit einem Be versehen oder durchgestrichen ist, verweist allerdings in einigen Traditionen auf eine verminderte Quinte, auch ungeachtet der generellen Vorzeichnung. T. 3 im Beispiel 1 und 2 könnte also auch wie im Beispiel 3 beziffert sein:
Vorzeichen ohne Ziffer
Akzidenzien ohne Ziffer (wie am Ende von T. 1 im Beispiel 1) verweisen auf die Terz über dem Basston.
Weitere Symbole und Prinzipien
Horizontale Striche wie in T. 4 von Beispiel 1 bedeuten, dass trotz Bewegung in der Bassstimme in den Oberstimmen kein Klangwechsel stattfindet.
Wird ein Basston wiederholt, gilt die zuerst notierte Signatur, bis eine neue Signatur folgt oder der Basston sich ändert. Deshalb soll in T. 4 von Beispiel 1 auch über dem zweiten d ein b erklingen. Dies gilt auch, wenn ein Basston in einer anderen Oktavlage wiederholt wird.
Mit welchen Tönen ergänze ich den Satz?
Zu einer 2 treten die 4 und die 6; zu einer Kombination 2 und 4 tritt die 6. Diese Bezifferungen sind somit gleichbedeutend und verweisen alle auf den sogenannten Sekundakkord (siehe Beispiel 4).
Eine durchgestrichene 4 oder eine 4 mit Kreuz verweist auf den Sekundakkord mit übermäßiger Quarte.
Zu einer Kombination 3 und 4 wird die Sexte hinzugefügt. Diese Bezifferungen sind also ebenfalls gleichbedeutend und verweisen beide auf den sogenannten Terzquartakkord.
Eine Terz über dem Basston kann hinzugefügt werden, wenn die Bezifferung nicht eine 2 oder eine 4 enthält. Als Ergänzungs- oder Füllton hat die Terz hat grundsätzlich Vorrang vor der Quinte (z.B. werden Quint-Oktavklänge in der Regel vermieden).
Eine Quinte über dem Basston kann hinzugefügt werden, wenn die Bezifferung nicht
- eine 6,
- eine 2,
- die Kombination 2 und 4, oder
- die Kombination 3 und 4
Und schließlich kann jeder Basston in der Prime oder Oktave verdoppelt werden, sofern er kein dissonierender Ton und kein Leitton ist.
Zuordnung zu den Stimmen und Stimmführung
Alle Töne können in der Prime oder Oktave verdoppelt werden, sofern sie nicht dissonieren und nicht Leitton sind (mit anderen Worten: wenn sie aus satztechnischer Perspektive in ihrer Fortführung "frei" sind). Denn über die genaue Lage eines Tons sagen Generalbasssignaturen in der Regel nichts aus.
Bei der Zuordnung der Töne zu den einzelnen Stimmen (beim konkreten Voicing also) müssen nun zuallererst die Grundregeln des Kontrapunkts berücksichtigt werden.
Die Dissonanzbehandlung muss stilistisch angemessen sein. Welche Dissonanzen müssen als Synkopendissonanz behandelt werden? Welche können auch ohne Vorbereitung eintreten?
Beispiel
Die eingefärbten Töne können jeweils nicht verdoppelt werden:
- Rot gefärbt sind alle Synkopendissonanzen (die als solche vorbereitet und schrittweise abwärts geführt werden müssen).
- Blau gefärbt sind Dissonanzen, die schrittweise abwärts geführt, aber nicht zwingend auch vorbereitet werden müssen.
- Gelb gefärbt sind Leittöne.
Die im Beispiel verwendete Art der harmonischen Analyse wird hier erläutert.
Häufige Fehler
- Quint-, Oktav- und Einklangsparallelen
- Synkopendissonanzen nicht vorbereitet und/oder nicht schrittweise abwärts geführt
- Verdopplung von Tönen, die in eine bestimmte Richtung geführt werden müssen (Leittöne, Synkopendissonanzen und andere Dissonanzen)
- übermäßige Sprünge und Schritte
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