Nach der Pariser Kathedrale Notre-Dame wird ein Phänomen bezeichnet, welches als «one of the major revolutions in the history of western music» gilt (Leo Treitler). Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert kommt es zu einer gewaltigen Erweiterung der liturgischen Einstimmigkeit. Nach der Zweistimmigkeit des «organum duplum» finden wir Beispiele von Choralbearbeitungen bis zu vier Stimmen. Daraus entwickeln sich die monumentalen liturgischen und liturgiebegleitenden Formen. Die eindeutige Aufzeichnung der rhythmischen Abläufe wird ausgearbeitet und in theoretischen Schriften beschrieben – es entsteht die Modalnotation. Neue Gattungen und ein neues Denken in bisher unvorstellbaren melodischen und rhythmischen Strukturen etablieren sich und strahlen auf ganz Europa aus.

Das Seminar führt durch die Hauptgattungen der Notre Dame-Schule und leuchtet ihre unterschiedlichen kompositorischen Konzepte aus. Wir lernen die rhythmische und strukturelle Vielfalt im Organum kennen, studieren die bewegliche Funktion der Klauseln und machen uns mit den ergreifenden Texten des Conductus vertraut. Wir wenden uns neuen Gattungen wie der Motette zu und studieren ihre Herkunft, Intertextualität und Mehrsprachigkeit. Gemeinsam untersuchen wir die wichtigsten Handschriften der Notre Dame-Schule und erwerben Kenntnisse zu deren Einordnung und Inhalt. Wir beschäftigen uns auch mit der Bedeutung und Verbreitung dieses Repertoires in den Peripherien Europas. Schließlich reflektieren wir über die Notation der Zeit und erhalten einen Einblick in die performativen Aspekte verschiedener Gattungen.