Lieder sind eines der wesentlichen Elemente der (europäischen) Musikgeschichte; die Gattung existiert in ihrer grundständigen Form bereits seit vor dem 15. Jahrhundert. Als Zusammenspiel von Text und Gesang sind Lieder sowohl in liturgischen als auch weltlichen Kontexten einem Spannungsfeld unterworfen, das sich später auch in anderer Form in der Gegenüberstellung von Kunst- und Volkslied zeigt. Aber auch reine Instrumentalstücke oder Texte werden zuweilen mit der Bezeichnung „Lied“ versehen. Die Geschichte des Lieds ist also komplexer als es diese einfachen Dichotomien vermuten lassen, denn wo genau die Trennlinie der einzelnen Liedformen verläuft, hängt oftmals von unterschiedlichen kulturellen und sozialen Faktoren ab.

Zur Eingrenzung einer Liedgeschichte der letzten 200 Jahre bieten Franz Schubert und Robert Schumann durch die Popularisierung des Kunstlieds einen ersten Anhaltspunkt, haben beide durch ihre Liederzyklen doch einen essentiellen Einfluss auf die neue Ästhetik des Kunstlieds genommen, auch und gerade in seinen aufführungspraktischen Eigenheiten. Diese teils bis heute wirkenden Strukturen sind Ausgangspunkt einer Gesamtschau der Liedproduktion, deren häufigste Form zwar nie das Kunst-, sondern Volkslied war, die aber v.a. durch das Kunstlied einem „künstlerischen“ Fortschritt und Anspruch unterworfen war. Die gegenseitigen Einflüsse der scheinbar getrennt voneinander stehenden Gattungen sind in ihren Überschneidungen spätestens im 20. Jahrhundert durch die Möglichkeiten der Tonträgerproduktion und medialen Verbreitung von Musik nicht mehr zu übersehen; wobei einmal mehr die Frage nach der Rechtfertigung dieser Kategorien ins Visier gerät.

Im Seminar sollen in einer breiter angelegten Gesamtperspektive die unterschiedlichen Liedformen und deren mögliche Wechselwirkungen betrachtet werden, wobei Hauptaugenmerk auf der Kategorie des Kunstliedes liegen wird. Dabei werden die bedeutenden Liederzyklen des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielen, aber auch Jazzgesang und Chanson, „Gebrauchsmusik“ und Pop.