Seminar

»Stunde Null«? – Ästhetik und Erinnerungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg

Lehrende: Reinicke
Fachbereich: Musikwissenschaft
Start: 09.04.2024
Tag: Dienstag 12:00–14:00
Raum: 1119 (Universität Freiburg, KG II)
Zielgruppe: Alle Interessierte
Modul:
Abschluss: Unbenoteter Schein nach regelmäßiger Teilnahme mit Referat; benoteter Schein nach zusätzlicher Hausarbeit

»So viel Anfang war nie. So viel Ende auch nicht« (Harald Jähner) – Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg bilden eine Zeit voller Widersprüche und Extreme: Mit dem Zäsur-setzenden Schlagwort der »Stunde Null« wurde im ehemaligen Nazideutschland schon bald ein tunnelblickartiger Tatendrang angestimmt. Die Uhr zurücksetzen, von vorne beginnen; im Takt des aufkommenden »Wirtschaftswunders« erklang die heile-Welt-verkündende Schlagermusik aus den Wohnzimmerradios. Das erlebte Leid, die Erfahrungen von Verlust, von Gewalt – auf der Oberfläche schienen sie vielerorts vergessen; ebenso die Frage nach der eigenen Verantwortung für den tiefen moralischen Absturz in diesen »schrecklichsten Krieg der Geschichte« (Ian Kershaw).

Auf einer anderen Seite äußerte sich etwa Theodor W. Adorno: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«. Nicht nur Lyrik, auch die Bildende Kunst und die Musik wurden auf ihre Befangenheit falscher Sentimentalitäten hin reflektiert. So war mit der musikalischen Strömung des Serialismus auch das Anliegen verbunden, vorbelastete Schwelgereien von vornherein auszuschließen. Andere Komponist*innen versuchten dagegen mit ihrem Schaffen, explizit Vergangenheit in Erinnerung zu halten, trauernd und mahnend. So gelang es etwa Benjamin Britten in seinem 1962 uraufgeführten War Requiem. Dieses Seminar verhält sich damit begleitend zu der Aufführung dieses Werkes durch den Hochschulchor gemeinsam mit dem Freiburger Bachchor im Herbst 2024.

Kunst, und insbesondere Musik, geriet auch zum Medium des Kalten Krieges: Die Avant-garde-Musik Darmstädter Provenienz hielt die amerikanische Besatzungsmacht als Versinnbildlichung der "freien Welt" des Westens. Und wieder ganz woanders berauschte der in den 50er Jahren der aufkommende Rock'n'Roll eine Generation junger Heranwachsender, die sich von der eingefahrenen Prüderie immer mehr zu entfesseln suchte.Der Blick auf die Nachkriegszeit verdeutlicht, in welchem besonderen Maße Musik den Umgang mit Vergangenheit widerspiegeln kann: zwischen Verdrängung, Loslösung und Erinnerung, vom Serialismus bis zum Schlager. Diesen Blick auf das weite musikalische Panorama der Nachkriegsjahrzehnte einzunehmen, ist das Vorhaben dieses Seminares.

Literatur:
  • Amy C. Beal, New Music, New Allies, American Experimental Music in West Germany from the Zero Hour to Reunification, Berkeley 2006.
  • Ulrich J. Blomann (Hrsg.), Kultur und Musik nach 1945 ‑ Ästhetik im Zeichen des Kalten Krieges, Saarbrücken 2013.
  • Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955, Berlin 2019.
  • Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1998, daraus: Das Goldene Zeitalter, S. 285-502.
  • David Osmond-Smith, New beginnings: the international avant-garde, 1945-62, in: The Cambridge history of twentieth-century music, hg. v. Nicholas Cook/Anthony People, Cambridge 2004.
  • Alex Ross, The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören, München 2009, daraus: Die Stunde Null, S. 381-393.
  • Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, Bonn 2016, daraus: Aufstieg aus der Asche, 635-704.
  • Peter J. Schmelz, Introduction: Music in the Cold War, The Journal of Musicology, Vol. 26, No. 1 (Winter 2009), pp. 3-16.
  • Richard Taruskin, The Oxford History of Western Music, vol. 5. The late twentieth century, Oxford 2009, daraus: Kap. 1, Starting from Scratch, S. 1-54.