Seminar

Mehrstimmigkeiten 1100–1270 – Corpora, Notation und digitale Edition

Lehrende: Voigt
Fachbereich: Musikwissenschaft
Start: 02.05.2022
Tag: Montag 16:00–18:00
Blockzeiten:
Datum Uhrzeit Ort
16.07.2022 10:00–16:00
Raum: HS 1119
Zielgruppe:

Für alle Interessierten, Voraussetzung ist die abgeschlossene Einführungsveranstaltung der Musikhochschule und vertiefte Kenntnisse im musikwissenschaftlichen Arbeiten. Wenn Sie die Veranstaltung besuchen möchten, wenden Sie sich bitte vorab an die Dozierenden.

Modul:
Abschluss:

Abschluss: benoteter Schein.

Im Laufe des 11. Jahrhunderts veränderte sich die Praxis zweistimmigen Singens so deutlich, dass die Theorie der zweistimmigen Choralbearbeitung um 1100 einer fundamentalen Reformulierung unterzogen wurde. Mit diesem Paradigmenwechsel der „Organum-Lehre“ ist angezeigt, dass sich um 1100 eine Freisetzung von Gestaltungsoptionen ereignete, denen sich letztlich europäische Mehrstimmigkeit als „kompositorisches“ Betätigungsfeld verdankt. Einmal angestoßen zeitigte diese Dynamik Folgen, etwa in der Modalnotation der Notre-Dame-Handschriften mit ihrer „Entdeckung des musikalischen Rhythmus“.

Zwischen der ersten Schicht nicht-mensuraler aquitanischer Zweistimmigkeit des 12. Jahrhundert und der modalrhythmischen Mehrstimmigkeit der Notre-Dame-Handschriften liegt somit ein tiefgreifender Medienwandel. Daher traten einerseits Kontinuitäten in der Gestaltung von Melodik und Zusammenklang in der Forschung hinter das kategorial Neue der rhythmisch gefassten musica mensurabilis zurück, obwohl im 13. Jahrhundert Bereiche nicht rhythmisch notierter Musik bleiben: organum purum und die texttragenden Passagen der Notre-Dame-Conductus. Andererseits wurden zahlreiche Versuche unternommen, rhythmische Muster auf die Musik des 12. Jahrhunderts zu projizieren und ältere Zweistimmigkeit der neueren ähnlicher zu machen.

Um hier weiterzukommen, Kontinuität und Differenz klarer beurteilen zu können, braucht es Vergleichsmaterial in Form elektronisch als Volltext durchsuchbarer Editionen. Für die Codierung von nicht-mensuraler und modalrhythmischer Mehrstimmigkeit gibt es bisher aber keinen Standard im Rahmen der MEI (Music Encoding Initiative). Ziel des Seminars ist es, auf solche Standards hinzuarbeiten und die Lücke zwischen den digitalen Editionen von Einstimmigkeit einerseits und mensuraler Mehrstimmigkeit andererseits zu schließen.

Die Erfordernisse der digitalen Editionsstandards müssen sich aus der Spezifik der historischen Repertoires und ihrer Notationen ableiten. Daher werden wir in der ersten Seminarphase die einschlägigen Repertoires kennenlernen, deren Notationen und Theoriekorpora studieren. Ziel ist es, typische „Probleme“ der Quellen und ihrer vorliegenden Druckausgaben zu erfassen. Im zweiten Teil des Seminars arbeiten wir mit Prof. Wolfgang Drescher (HfM) daran, aus unserer philologisch-analytischen Erkenntnis heraus ein Modell für die Datenmodellierung auf den Weg zu bringen, mit dem sich die verschiedenen Korpora so edieren lassen, dass sie untereinander vergleichbar und dennoch in ihrer jeweiligen Eigenheit erfasst werden.

Das Seminar richtet sich primär (aber nicht ausschließlich) an Master-Studierende und BA-Studierende von Uni und Musikhochschule ab dem 4. Semester. Vorerfahrungen mit historischer Notation sind nützlich, aber nicht zwingend. Kenntnisse in XML sind willkommen, aber keinesfalls vorausgesetzt. Was Sie mitbringen sollten ist Lust auf Arbeit mit Handschriften und Notationen und etwas Neugier für digitale Möglichkeiten.